Vincenza Gerosa
SCHÜRZE UND HOLZSCHUHE

von Albarica Mascotti

 

Gebet
Heilige Vinzenza,
du empfingst in reinem Glauben,
in der vollkommenen Hingabe deiner selbst in
Gottes Willen die Aufgabe,
die dich mit Bartholomäa verbunden hat.
Hilf uns, unseren Glauben von jeglichem Rationalismus zu befreien,
sodass er jenes Verständnis von Liebe,
jene Kraft von Intuition und Tätigkeit,
jenen Sinn des Göttlichen wiedererwirbt,
die einem Herzen entwachsen,
das mit Vertrauen nach dem einfachen,
endlosen Geheimnis Gottes strebt.
Begleite uns in den schweren Momenten,
du, die grosse Gehorsame, die Gott erhoben hat. Amen.

Auf den Märkten

In Iseo var Markttag. In dem Lastkahn, der vom kleinen Hafen von Lovere (Bergamo) langsam in jene Richtung fuhr, war auch Ambrosius Gerosa mit seiner Fracht von frisch gegerbten Fellen und mit der stolzen Miene desjenigen, der- gute Aussìchten für die eigenen Geschäfte hegt.
Tatsächlich waren die Gerosas ehrliche Leute: die angemessenen Preise und die Qualität der Ware machten ihre Produkte konkurrenzfähig sogar auf den wichtigsten Märkten, von Mailand bis Venedig, Verona und Bozen.
Während sich das erste Tageslicht über den See ergoss, überliess sich Ambrosius seinen Gedanken als Geschäftsinhaber und als solcher für jene Arbeit perfekt geeignet; von Zeit zu Zeìt unterbrach er sich dabei, um einen Blick auf die Nichte Katharina zu werfen, die sich in der ruhigsten Ecke des Lastkahns zurückgezogen hatte. Offensichtlich, um zu beten.
Der Onkel wusste das: ähnlich waren auch die anderen beiden, die zu Hause geblieben waren, Rosa und Franziska. Ueberdies wusste das ganze Dorf, dass die Schwestern Gerosa tüchtige Mädchen, der Frömmigkeit und Wohltätigkeit ergeben waren.
– Während sie in der Kirche sind, lassen wir sie in Ruhe -, hatte Onkel Ambrosius, der Patriarch einer Familie, ein für allemal geurteilt, der mit der Leidenschaft für Geschäfte auch den christlìchen Sinn des Lebens pflegte.
Für die drei Schwestern war jene Freiheit ihr ganzer Ehrgeiz. Ausserdem war Katharina ein so umsichtiges, unternehmungslustiges im Urteil gerechtes und des Rates fähiges Mädchen, und war daher auch ein sicheres Versprechen für den Handel. Was sollte man sich in Ermangelung eines männlichen Erben mehr wünschen? Ambrosius erkannte mit Wohlgefallen, dass das Mädchen die Geheimnisse der Erwerbstätigkeit unter seiner Führung erlernt hatte; daher nahm er sie mit, wenn er ausserhalb des Dorfes Geschäfte abschloss. Von ihm hatte sie auch schreiben und rechnen gelernt, sodass sie sich recht gut im Laden zurechtfand.
In der Tat war Katharina früher einmal den Benedikterinnen von Gandino für den Unterricht anvertraut worden, aber sie erkrankte nach kurzer Zeit.
– Ich kümmere mich darum, dich zu lehren, was für das Leben nötig ist -, hatte ihr da der Onkel ohne Bedauern versichert.
Zu jener Zeit war der Unterricht nämlich nicht so verbreitet und umso weniger unter den Mädchen! Ambrosius konnte sich über den Erfolg seiner Lehre wirklich freuen, und in der Tat, hätte er für jene Nichte seine Hand ins Feuer gelegt.
Der Lastkahn landete inzwischen mit spritzendem Wellengang und dem Geschrei der Kaufleute, das vom Platz Iseos zu vernehmen war.

 

Familie Gerosa

Um den Arbeiten des Tuchladens und dem Geschäft nachzugehen, waren die Brüder von Ambrosius, Alois, Hans Anton, Katharinas Vater, zu Hause geblieben. Die patriarchalische Familie der Gerosas wurde von den Schwestern Maria und Bartholomäa und den Nichten mit ihrer Mutter Jakobina Macario vervollständigt. Ein anderer Bruder, Salvatore, hatte sich anders im Leben orientiert.
Die Gerosas waren in Lovere aus der Brianza kommend gelandet, weil sie grösseres Glück in einem am See liegenden Dorf voraussahen, welches zudem am Zusammenfluss der Täler lag. Wegen seiner Lage blühten dort die Handelstätigkeiten tatsächlich bis in weit zurückliegende Zeiten. Die lange Zugehörigkeit von Lovere zur Republik Venedig hatte sie gefördert, wenn auch deren Ruhm in der letzten Spanne des 18. Jahrhundertes unaufhaltsam erlosch.
Jedenfalls gehörten die Gerosas in Lovere zu den wohlhabenderen Familien. Aber sie sonnten sich weder selbstsüchtig in ihrem Wohlstand noch prahlten sie damit. Im Gegenteil! Ihre Nahrung war einfach, die Kleidung ohne nutzlosen Schmuck; sie erstrebten die ihrer Stellung eigenen Feinheiten nicht einmal in der Erziehung der Mädchen.
Das alles gereichte dann zum Nutzen der Armen, die zahlreich an ihre Tür klopften, von der, nach Aussage der Loverer, niemand mit leeren Händen wegging. Für die Gerosas war es eine christliche, selbsverständliche Pflicht, sie immer offen zu halten.
In jenem Haus, vier Schritte entfernt vom Hafen, war Katharina herangewachsen, die am 26. Oktober 1784 dort als die Erstgeborene von Hans Anton und Jakobina Macario geboren wurde. Nach dem Beispiel der Onkel und Tanten hatte sie sich bald daran gewöhnt die Hausarbeiten zu erfüllen, aber auch “Holz zu tragen, das Korn zu sieben, den Leim zum Gerben zuzubereiten, den Gemüsegarten zu bebauen”. Und die Schwestern folgten ihr. Für alle gab es zu tun, weil die Gerosas ausserdem Güter und Häuser mit Halbpächtern besassen.
Und nach und nach hatte sich Katharina, wie ihre Onkel und Tanten, daran gewöhnt, auch die Bedürfnisse zu bemerken, die sich in den Häusern herum verbargen. Es war sogar ein Wettstreit unter den Schwestern entstanden. Rosa, etwas schüchtern, folgte den Schritten von Katharina, während Franziska auch die Initiative ergriff: unbefangen belud sie ihre Schultern mit ein wenig Holz und wandte sich gegen die ärmeren Wohnungen, indem sie sich ganz einfach den erstaunten Blicken der Vorübergehenden stellte und auch nicht zögerte, sie im Notfall von anderen Hilfe zu erbeten.
An den täglichen Mühen hielten sie sich dann schadlos mit kurzen Besuchen in der Kirche, in der St. Georgs- oder St. Mariakirche, wo eine Andacht stattfand; und auf unfehlbare Weise beschlossen sie ihren arbeitsamen Tag in der Kapelle der Klarissinnen, wo sie auf dem Fussboden zwischen der ersten Säule und den Bänken bis über das Ahendläuten hinaus knieten.
Der Sonntag war dann ganz zu ihrer Verfügung; sie zogen sich festlich an und von Freude erfüllt liefen sie zur Messe und widmeten sich dann der Wohltätigkeit, indem sie auch Freundinnen miteinbezogen.
Drinnen in jenem Haus, das aus vielen Gründen beneidenswert war, verlief aber nicht alles glatt. Auch hier waren Spannungen und Unannehmlichkeiten vorhanden, die ein jedes Zusammeleben prägen, und waren infolge der patriarchalischen Familienstruktur stärker betont.
Es gab Unstimmigkeiten, und man kann sie sich leicht vorstellen, wenn man sich das Zusammenleben von so verschiedenartigen Charakteren vorstellt: Ambrosius, der Patriarch, dem alle untergeordnet waren, Bartholomäa mit ihrem unzugänglichen Wesen, Hans Anton mit seiner schwachen Begabung für die Geschäfte und mit seiner Gattin, die als wenig ausgeglichen bezeichnet wurde, vielleicht weil sie sich manch harmlosen Wunsch erfüllte.
Die drei Schwestern atmeten auch jene Luft von gegenseitigen Missverständnissen und litten tief darunter, denn die Leidtragenden waren vor allem die Eltern. Diese andere Seite der Medaille zeigten die Gerosas natürlich nicht dem Blick der Oeffentlichkeit; wie man sagt, pflegten sie, schmutzige Wäsche zu Hause zu waschen.

 

Von dem Kruzifix

Es kam für Katharina der Abend eines traurigen Tages. In ihren Augen brannten Tränen, die sie mit aller Kraft zurückhielt; sie hatte jenen Moment erwartet, um sich in ihrem Zimmer zurückzuziehen und sich endlich dem Weinen vor dem Kruzifix zu überlassen, das wie auf einem Altar auf der Truhe stand.
An jenem Tag war ihr Vater gestorben, der seit einiger Zeit krank gewesen war. Zuneigung, Gedanken, Sehnsüchte bewegten ihr Inneres und gleichzeitig kehrte die Erinnerung an den so oft gefühlten Schmerz beharrlich zurück, wenn sie ihren eigenen Vater sah, den seine Brüder so beiseite liessen und nur weil seine im Grunde nennenswerten Fähigkeiten nicht mit den Interessen der Familie zusammenpassten.
– Und nun, dachte sie, was würde mit ihrer bei den Onkeln schon so unbeliebten Mutter geschehen? Und was hätte sie, die älteste der Töchter, aber schliesslich mit nur siebzehn Jahren, zu ihrer Verteidigung machen oder sagen können? – Sie schaute durch den Schleier der Tränen auf die Wunden des Kruzifixes und Friede breitete sich in ihrer Seele aus. Er schwieg, duldete und liebte fortwährend, und verzieh. War das die Antwort?
Nach jener Verwirrung kamen die regen Tage wieder, das lebhafte Treiben der Markttage begann wieder, aber zu Hause wurde die Stimmung immer schmerzlicher. Wie Katharina geahnt hatte, war der Tod des Vaters nur der Anfang einer langen Folge harter Schläge. Unerwartet erkrankte Franziska und starb, die ein Herz und eine Seele mit ihr war und vom Dorf wie ein Engel der Güte beweint wurde.
Und an einem anderen Tag, dem traurigsten aller, mussten sich Katharina und Rosa von der Mutter verabschieden, die die Onkel nicht mehr zu Hause ertrugen. Mit herzzerreissendem Kummer halfen sie ihr, ihre Sachen zu packen und dann sahen sie sie arm und schutzlos aus jener Tür gehen, woraus doch so viele Liebeswerke ausgingen! Ein Entschluss der Gerosas, von dem man wegen ihrer Zurückhaltung die wahren Gründe nicht kennt, und die jedenfalls mit ihrem christlichen Glauben unvereinbar waren.
Eigentlich hatten die zwei Töchter beschlossen, ihrer Mutter zu folgen und mit ihr die Wohnung, die Arbeit und die Entbehrungen zu teilen, an die sie nicht gewöhnt war, aber sie wurden anders beraten und eingeladen, ihr in ihren Bedürfnissen mit dem zu helfen, was ihnen zustand. Und sie taten es eben so, nachdem sie, wie gewöhnlich, aber viel länger, das Kruzifix angeschaut hatten. Dann mussten sie die Vermittlung einer mütterlichen Tante annehmen, um ihre Mutter zu erreichen, denn es war ihnen nicht einmal der Trost erlaubt, sich ihr zu nähern. Das erforderte einige Jahre und eine schwere Krankheit der Schwägerin, um die Gerosas zu veranlassen jenes Verbot aufzuheben. So konnten sie ihr beistehen und sich an ihrem Krankenbett in der Pflege abwechseln, indem sie ihr ihre tiefe Zuneigung ausdrückten. Sie liessen ihr jegliche Pflege angedeihen, aber die Hoffnung auf eine Besserung wurde immer schwächer, bis sie in der Nacht des 8. Februar 1814 starb.
Betrübt darüber schlossen die zwei Schwestern den grossen Schmerz aber auch den letzten, trostreichen Segen der Mutter in ihren Herzen ein.

 

Eine wahre Frau der Nächstenliebe

Inzwischen verlöschten die Wogen der napoleonischen Revolution und eines Tages sahen die Bewohner von Lovere am Fenster der Gemeinde die österreichische Fahne wehen. Wegen der Aufeinanderfolge der Regierungen und der Kriege war das Dorf in allen Bereichen seines Lebens tief gezeichnet worden, so sehr, dass den Familien nichts anderes übriggeblieben war, so erzählen die Berichte, als “die Tränen, nachdem auch das Blut der Söhne erschöpft worden war”. Zu den Notfällen, die durch die politischen und militärischen Ereignisse verursacht worden waren, kamen furchtbare Heimsuchungen der Natur zwischen 1814 und 1818 dazu. Alles begann in einem Sommer rnit Flut, Ueberschwemmungen und merkwürdigen Schneefällen, die die Ernten gefährdeten und viele Familien mit Hunger plagten. Mit der Hungersnot verbreiteten sich dann Seuchen wie Typhus und Pocken, welche die Dörfer dezimierten.
Die ärmsten Einwohner von Lovere sahen im Haus der Gerosas ihre Hoffnung. «Wer um die Mittagszeit dorthin gegangen wäre, hätte es voll von armen Leuten vorgefunden». Aber lange Reihen von unterernährten und abgezehrten Menschen kamen auch von den Tälern nach Lovere herunter, sodass die Strassen von Bettlern wimmelten.
Trotz alledem hatten die Gerosas, als umsichtige Verwalter und gute Sparer, noch Möglichkeiten, wenn auch verringerte, und mit denjenigen, die Hunger litten, knauserten sie nicht.
Auch diese Zeit des Notstandes ging vorüber, der jedoch in den Familien tiefe Zerrüttungen hinterliess. Unterdessen begannen das Alter und die Mühen die starke Konstitution der Gerosas zu schwächen, von denen drei zwischen 1822 und 1824 nacheinander starben, nachdem sie in ihrem letzten Willen ihre Fürsorge gegenüber den Armen verfùgt hatten, und die auch die Bewohner von Lovere trotz des grossen Unrechts an ihrer Schwägerin stets gepriesen hatten .
In jenem nunmehr zu grossen Haus lebten nur mehr die fortwährend nörgelnde Tante Bartholomäa und die beiden Nichten, die entschlossen waren, die Nächstenliebe als ihr Lebensideal zu wählen. Geschwind. und unauffällig bewegte sich Katharina nun in den Strassen und Gassen, verschwand hinter den Toren der Häuser, wo es Not zu lindern galt; mit Anmut und Diskretion schrieb sie das Notwendige auf, und dann… kamen die Windeln für das Neugeborene, guter Wein für den Kranken, türkischer Weizen, um den Hunger der Kinder zu stillen, ein Bett für den heranwachsenden Buben, der Erlass einer Schuld, die Bestellung einer Arbeit, um einen Handwerker etwas verdienen zu lassen, die Hilfe, um einen Laden zu öffnen, dessen Kundin sie dann wurde, das Nötige um eine Familie zu gründen und… warum nicht?, auch und vor allem einige Ratschläge für das Leben demjenigen, der einen üblen Weg ging.
“Ich werde nicht mehr sein, aber dieses Haus wird ein Heiligtum werden”, war es eine arme Familienmutter gewohnt zu wiederholen, wenn sie auf ein Gitter zeigte, aus dem sie die Gerosa mit einem Handzeichen rief, um ihr dann einen Korb voll mit Lebensmitteln und anderem zu überreichen.
In der Tat, oft zögerten einige arme Frauen mit dem Mehlsack, den sie in der Tasche verborgen hielten, auf jener Schwelle; das Weinen der Kinder hatte sie dorthin getrieben und zugleich befürchteten sie zu viel zu wagen. Katharina, die sie vom Gitter aus erspähte, kam ihnen da gütig zuvor: “Ihr seid zu entkräftet, um bitten zu können; man muss essen, lasst den Sack hier”. Auch hinter ihrer Grosszügigkeit gab es heimliche Geschichten von persönlichen Verzichten und Opfern, aber nur sie und das Kruzifix kannten all das. Denn Katharina verbarg alles geschickt unter einer schönen, feinen und taktvollen Handlungsweise, als eine echte Frau der Nächstenliebe.

 

Eine junge Freundin

In Lovere war noch kein weibliches Oratorium, welches der Bischof von Brescia Monsignor Gabrio Nava in einem Pastoralbrief so lebhaft empfohlen hatte. Auch Don Rusticiano Barboglio empfand die Dringlichkeit dieses Anliegens für die Jugend seiner Pfarrei, aber Leute und Mittel waren nötig.
Während er daran dachte, ging ihm Katharina durch den Kopf, die sich schon mit Mädchen beschäftigte. Anselma, das Schneiderin-Lehrmädchen, das von Castro kam, Maria, Luise, eine andere Maria, überschwängliche Mädchen, die es galt, ins Leben gut einzuführen, besuchten das Haus Gerosa oft um mittags zu essen oder kleine Arbeiten zu verrichten, Katharinas Findigkeiten, um sie den Gefahren der Strassen zu entziehen; andere, die schon gut unterwiesen waren, wie die Omios, die Bosios, die Gallinis, trafen sich in gewissen Zeitabständen, um zusammen zu beten und um ihren Eifer im Dienste Gottes zu festigen.
“Vor allem aber -, betonte Don Barboglio, der Auge und Herz eines Seelsorgers hatte, – bin ich – immer mehr davon überzeugt, dass der Herr besondere Pläne für Katharina hat”.
Sie schien ihm gerade die richtige Person zu sein. Als er sie eines Tages traf, teilte er ihr daher seine Absichten mit:
– Für den Anfang handelt es sich einfach darum, sonntags die Mädchen zu versammeln, um zusammen zu beten, ihnen einige Unterhaltungen anzubieten… –
Gesagt – getan. Katharina machte das Tor ihres Hauses weit auf und sofort eilten die Mädchen des Dorfes auf die schöne Veranda herbei, die sie mit Stimmen und Fröhlichkeit erfüllten. Das lebhafte Treiben missfiel Tante Bartholomäa letztendlich nicht einmal, obwohl ihr gelegentlich ein Murren entkommen sollte. Im Grunde taten sie nichts anderes, als beten, singen und sich seelenruhig unterhalten.
Es verging keine lange Zeit und eines Tages befand sich Bartholomäa Capitanio in der Gruppe, eine Siebzehnjährige, die aus dem Internat der Klarissinnen kam, wohl erzogen, mit soeben beendeten Studien und mit ein wenig Erfahrung im Unterricht. Sie wohnte mit ihren Eltern und der Schwester Camilla in der nahen Strasse der Beccarie, wo ihre Familie ein Geschäft führte.
In den darauffolgenden Zusammentreffen verstand Katharina, dass sie auch unternehmungslustig und mutig war, voll Lust heilig zu werden und bereit, sich für das Wohl ihrer Altergenossinnen einzusetzen. Sie war eigentlich gerade diejenige, die man brauchte: es war dennoch nötig, dem Oratoriun eine konkrete Form zu geben, mit einem geeigneten Ort, speziellen Regeln und Personen, von denen wertvolle Anregungen ausgingen. Katharina jedoch fühlte sich grossen Dingen nicht gewachsen.
Alles wurde mit dem Pfarrer und seinem Koadjutor, Don Angelo Bosio, rasch abgeschlossen. Und so schwärmte eine Schar von Mädchen, die Gerosas Haus nicht mehr aufnehmen konnte, eines Sonntags unter der Führung von Bartholomäa freudiger als gewöhnlich ins neue Oratoriun neben der Pfarrkirche St. Georg.
Dort hatten sie eine richtige Kapelle allein für sich, welche Katharina und Rosa hatten erneuern und einrichten lassen, eine Regelung mit bestimmten Pflichten, für die Bartholomäa gesorgt hatte, periodische Treffen und sogar Einkehren und Exerzitien, selbstverständlich durch die finanzielle Unterstützung der Familie Gerosa. Kurz und gut, ein echtes Oratorium, das Christinnen ausbildete und Familien unterstützte.
Inzwischen schaute Katharina mit zunehmender Sympathie auf jene ihrer jungen Freundinnen, die reich an Anlagen und mit apostolischer Leidenschaft erfüllt war und ihre bescheidene Initiative beflügelte.
Bartholomäa bewunderte Katharinas heiliges Leben, eine Ermunterung für sie, die im Internat während des Fangspieles mit festem Entschluss versprochen hatte: «Ich will heilig, eine grosse Heilige und bald heilig werden». Ihr war das längste Strohhälmchen des kleinen Bündels zuteil geworden, und sie hatte es als ein Zeichen des Himmels geschätzt.
Wenige Jahre darauf befanden sich alle drei – die Schwestern Gerosa und Bartholomäa – in einer anderen Wohltätigkeit verwickelt, die das Dorf dringend brauchte. Zu seiner Zeit hatte Onkel Ambrosius den ersten Schritt gemacht, weil er in seinen letzten Verfügungen ein schönes Haus bei Porta Seriana mit einem Grund ringsherum und einer entzückenden Sicht auf den See hinterlassen hatte, damit es als Spital benutzt würde… Katharina selbst hatte jene Zweckbestimmung der Hinterlassenschaft vorgeschlagen. Und nun schien es ihr, dass der Moment gekommen war, auch jenes Werk zu verwirklichen.
Das Gebäude war vorhanden, aber man musste es einrichten und den Hausrat besorgen. Darin hatte Katharina jedoch Erfahrung. Sie kam mit dem Wohltätigkeitsinstitut überein und erklärte sich bereit, die Arbeiten zu verfolgen. Kaum war sie von den anderen Verpflichtungen frei, erreichte sie eilends die Baustelle: «Sie sah, was zu tun war, gab Befehle, sorgte und überwachte die Ausführung, damit alles erfüllt wurde, wie es sich gehört». Nachdem der Bau fertig war, wurden die Betten, die Wäsche, das Geschirr geliefert; auch verschiedene Mädchen eilten zur Hilfe herbei.
So war das kleine Spital mit zwei Abteilungen und dem Altar in der Mitte am 1. November 1826 für die Einweihung bereit. Der Gemeindearzt würde sich mit einigen Krankenpflegern damit beschäftigen. Katharina wollte Bartholomäa mit dem Auftrag als Verwalterin und Direktorin betrauen und mit ihr wetteiferte sie dann in den Pflegediensten. Katharina bevorzugte Putzarbeiten, Betten machen, Helfen, sich in das Leiden jedermanns einzufühlen; nach und nach liess sie Worte des Trostes, des Mitleids und des Glaubens einfliessen, weil sie sagte, dass man die Seele des Kranken erreichen müsse.
Einige Jahre später musste sie zu Hause der Schwester Rosa beistehen, die schwer erkrankt war. Mit gebrochenem Herzen standen sie einander mit Worten des Glaubens und der Zuneigung vor dem Kruzifix bei, und so bereiteten sie sich auf das Opfer vor, das sich am 28. November 1829 vollendete. Im grossen Haus der Gerosas blieben Katharina und die Tante Bartholomäa allein.

 

Ein Blitz aus heiterem Himmel

Das Leben hatte Katharina gegen die schwersten Opfer abgehärtet, jedoch kam ein neuer Kummer, der seit einiger Zeit ihr Inneres schmerzte und zwar ganz unvorhergesehen. Und dieses Mal war es ihre junge Freundin, Bartholomäa Capitanio diejenige, die Verwirrung in ihre Tage brachte, die nunmehr einen geregelten Ablauf mit Gebetszeiten und Hingabe an den Nächsten und endlich ein wenig ruhiger waren.
Katharina hatte keinen grossen Ehrgeiz: ihr genügte jene tägliche Wohltätigkeit, die sie zu Hause, den Leuten von Lovere und den umliegenden Dörfern austeilen konnte, wohin sie die Familiengeschäfte führten. Und ausserdem war ihr Alter nicht mehr das der grossen Träume…
– Wir sollen im Verborgenen leben, mit dem wenigen zufrieden sein, das Gott will -, beeilte sie sich Bartholomäa zu antworten, sobald sie bemerkte, dass dieser ein merkwürdiger Plan eingefallen war.
Aber, dessen ungeachtet, brachte ihn ihr Bartholomäa eines Tages sogar klipp und klar zu Papier: «…Ich sehne mich inbrünstig nach dem Moment mit Euch vereint sein, um zu Gottes Ruhm und zum Vorteil des Nächsten zu wirken». Sie wollte sie als Gefährtin bei der Gründung eines Institutes, welches ihrer Tätigkeit eine Zukunft sichern sollte. Nach Katharinas Meinung handelte es sich um ein grosses Projekt, das sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel überraschte und tief bewegte.
Aber jene anderen Worte, welche sie geäussert hatte, fast um ihr jeden Ausweg zu versperren, beunruhigten sie noch mehr: «Geben wir uns in Gottes Hände, suchen wir seinen Willen… bereiten wir seinem Werk keine Hindernisse; ich wünsche keine grossen Dinge zu tun, sondern Gottes Willen allein».
Auch Don Angelo Bosio, der Beichtvater von Bartholomäa, behauptete, dass Gottes Wille darinstecke. Katharina hatte die Pläne der Vorsehung immer verehrt und man sollte sie jedenfalls verehren… Nun aber fühlte sie sich mehr als je «als eine arme, zu nichts fähige Frau»; sie war eine Frau des Alltags, eine Frau der Wochentage. Wozu sich weiter vordrängen?
Traurig erzählte sie dem Kruzifix ihre ganze Abneigung in einem der gewöhnlichen Treffen in der “Heiligen Maria” und vor jenem Gesicht, das “Ja, Vater” ausdrückt, musste sie nachgeben, wie immer, ohne zu verstehen. Als sie Bartholomäa begegnete, gelang es ihr daher nur zu stammeln: – Ich bin nicht davon überzeugt, aber wenn Gott es so will, geschehe sein Wille -.
Und sie bereitete sich vor, alle Folgen jener neuen «Kreuzigung» anzunehmen.
Im Dorf und unter den Verwandten galt ihre Zustimmung als ein Wahnsinn, der ihr Vermögen gewiss zunichte gemacht hätte. Natürlich beunruhigte sich Tante Bartholomäa am meisten, die kein Vertrauen in jenem Werk hätte, obwohl auch sie unter ihrem mürrischen Benehmen den barmherzigen Geist der Gerosas verbarg.
Aber die junge Capitanio, die auch ihre Kämpfe auszutragen hatte, hielt die Hoffnung aufrecht, nicht im Geringsten vor den Schwierigkeiten erschrocken, die sie als ein Zeichen des Segens Gottcs betrachtete; ganz im Gegenteil sagte sie zu ihren Freundinnen, dass sie das Institut “unter so vielen Dornen schnell und sicher wachsen” sah. Durch die Ermutigung von Don Bosio hatte sie zudem begonnen, einen Plan des Werkes als «Promemoria» zu schreiben.
Tatsächlich, wurde die lange Geduldsprobe mit der Aufklärung der Situation belohnt: die Tante ging auf die Aufteilung des Vermögens ein und so konnte man ein Haus bei Porta Seriana, neben dem Spital kaufen. Renovierungs – und Wiederanpassungsarbeiten waren notwendig, die Familie De Gaia, der es gehörte, hatte es lange Zeit in Nachlässigkeit und Verwahrlosung gelassen, aber es war wichtig anzufangen.
– Alle Werke haben einen Anfang – drängte Bartholomäa – und ich bin froh, dass er klein und bescheiden ist… Ihr, Katharina, fasst neuen Mut, überlegt, sprecht, wirkt, damìt die Sache rasch gedeiht -.

 

Zusammen im “Conventino”
(im kleinen Kloster)

Für diesen «Beginn» hatten sich Katharina und Bartholomäa bei Tagesanbruch des 21. November 1832 bei dem Altar der Schmerzensmutter in der Pfarrkirche von St. Georg verabredet, die zu jener Stunde fast leer war. Der Pfarrer, Don Rusticiano Barboglio und Don Angelo Bosio lasen dort eine Messe eigens für sie. Dann begaben sie sich gemeinsam zum Haus De Gaia, – das Conventino -, wo Bartholomäa und Katharina vor einem Bild der Gottesmutter kniend, das auf einer Kommode zwischen zwei Kerzen stand, Gott versprachen, sich in seinem Namen ganz und gar dem Dienst am Nächsten zu widmen.
Nur Armut war in jenen Räumen, wo es an den nötigsten Dingen fehlte, aber Bartholomäa fühlte sich «im Gehege des Herrn», seelenvergnügt und sie hätte jene Freude mit keinem Ding auf Erden getauscht. Für Katharina dagegen, waren Unannehmlichkeiten nicht beendet; gleich danach musste sie nach Hause gehen, um der Tante beizustehen, die krank geworden war und um Familienangelegenheiten zu ordnen, obwohl sie kurze Besuche im Conventino machte, um Bartholomäa mit den vielen Verpflichtungen zu helfen.
Sie kam nach etwa fünfzehn Tagen endgültig mit dem einzigen Vorsatz wieder, zu gehorchen, zu arbeiten und zu dienen und ihrer jungen Gefährtin die Direktion des Werkes zu überlassen.
– Du sollst die Oberin sein – sagte sie ihr sofort -; – du hast Bildung und Fähigkeiten, vährend ich nur zu Hause ausgebildet worden bin -.
– Aber Ihr habt die Weisheit des Alters, die Erfahrung… -, erwiderte Bartholomäa.
Für beide kamen bald arbeitsame Tage: sie begannen sie mit der Teilnahme an der Messe in der St. Georgkirche, dann mussten sie sich den Waisen widmen, Unterricht halten, die Kranken besuchen und zum Oratorium laufen; es waren auch die Hausarbeiten zu erledigen und den Acker zu bebauen; auch die Bauarbeiten waren in Gange.
Erst die Abendschatten dämpften die Stimmen und brachten wieder ein wenig Ruhe ins Conventino. Katharina und Bartholomäa versammelten sich da um ein Licht, über das Buch der Regeln gebeugt, das ihnen Don Bosio verschafft hatte, und woraus sie jene vom heiligen Vinzenz de’ Paoli inspirierten wählten. Sie erforschten sie, denn sie wollten ihrem Leben eine geregelte Form geben.
In den Händen hatten sie auch das «Promemoria», worin Bartholomäa mit grosser Genauigkeit ihre Absichten dargelegt hatte: sie hätten ihr Möglichstes getan, um den Notleidenden zu helfen, indem sie als Beispiel und Führung Jesus den Heiland hatten, der auf dieser Welt weilte und allen Gutes tat und der bereit war, auf dem Kreuz zu sterben, um den Menschen zu zeigen, wie sehr sie Gott liebt.
Jesus der Gekreuzigte war auch für Katharina «das grosse Buch der Meditation und Nachahmung»; das Leben hatte sie gelehrt, es zu lesen und seiner Lehre zu folgen. In der Tat pflegte sie mit wahrer Ueberzeugung zu wiederholen: «Wer den Gekreuzigten kennt, weiss alles».
Beide fühlten sich in den Programmen wohl. Die Lebensgrundlage war im Sinne des Evangeliums gesichert; der Rest wäre allmählich erreicht worden, wenn sie den Schritten der Vorsehung gefolgt wären.
– Langsam geht es vorwärts und man hofft, bald das zu erreichen, was man sich wünscht -, erklärte Bartholomäa den Freundinnen, die noch nicht gänzlich überzeugt zusahen.
In der Tat waren nicht einmal zwei Monate vergangen und da stellte sich plötzlich eine junge Frau von Sellere Magdalena Giudici vor; sie wollte nur bei den Hausarbeiten helfen, weil Bartholomäa und Katharina nicht alles erledigen konnten, aber bald entschied sie, bei ihnen als Schwester zu bleiben.
Ueber das, was im Conventino entstand, wachte auch Don Angelo Bosio mit väterlichem Herzen, der inzwischen die nötigen Massnahmen ergriff, um die rechtliche Regierungsgenehmigung zu bekommen.
Inzwischen liessen die Frühlingstage das Grün und die Blumen auf dem Abhang des Hügels hinter dem Haus und die Lebhaftigkeit der Schülerinnen in den Schulzimmern und im Hof ausbrechen. Alles lächelte und versprach Leben, als Katharina, – es war der erste April 1833-, nach einer Feier in der St. Georgkirche, Bartholomäa, bleich im Gesicht, kommen sah; die Beine trugen sie nicht mehr. Es ging ihr sehr schlecht: sie musste sich krank ins Bett legen, sich energischer Behandlung bei liebevollen Bemühungen und der Sorge der Gefährtinnen unterziehen, die nicht aufhörten, den Herrn um ihre Genesung anzuflehen, aber gleichzeitig jeden Tag in sich ein wenig Hoffnung sterben fühlten.
Trotzdem hatten die beiden – Katharina und Bartholomäa – so viel Mut und so viel Zuversicht, dort auf jenem Bett den Gründungsakt des Institutes zu unterzeichnen, den sie bei der Zivilbehörde einbringen sollten. Bartholomäa blieb wenig mehr als ein Monat Leben übrig, nicht einmal die nötige Zeit, um die positive Antwort zu erfahren. Sie starb am 26. Juli jenes selben Jahres in der Ruhe und dem Vertrauen der Heiligen, aber gleichzeitig warf sie die Gefährtinnen, die Verwandten und das ganze Dorf in grosse Bestürzung.

 

Lasst uns weitergehen

In jenen Tagen konnten die Loverer den Gedanken nicht vom Conventino abwenden.Von jedem Punkt des Dorfes aus konnte man den «kleinen mittelalterlichen Turm» sehen, der von der Höhe des Hügels auf das Kloster zu zeigen schien. Die Leute schauten hinauf und sie sahen einander mit unbeantworteten Fragen an.
Noch grösser war die Verwirrung im Hause De Gaia: Magdalena packte ihre Koffer und auch Katharina hatte entschlossen, zu ihrem gewohnten Leben zurückzukehren. Die Priester jedoch waren damit nicht einverstanden, die den Mangel an Vertrauen auf die Vorsehung Gottes tadelten.
– Warum wollt ihr nur eure Schwäche bemessen? Ist es nicht besser, auf die Hilfe des Herrn zu vertrauen, der mit so vielen Zeichen verstehen liess, das Werk zu wollen? -, sagten sie mit energischem Ton zu ihnen.
Das genügte, dass Katharina tief bereute und ihre Verfügbarkeit unter Tränen wieder anbot.
– Ich verstehe nicht, ich sehe nicht…, Gott wird es tun. Ich bin da, mögen sie mit mir machen, was sie wollen…, auch mein Ich ist in ihren Händen -.
Sie fand auch die Stärke, um die untröstliche Magdalena zu ermutigen.
– Gott -, sagte sie zu ihr und bemerkte in sich schon eine neue Energie -, hat weggenommen, was unsere Hoffnung war, weil er der Schöpfer des Werkes sein will… Gehen wir mit Vertrauen weiter und lassen wir ihn machen -.
Das Conventino öffnete wieder die Tore und das Leben begann mit allen Dienstleistungen, die Bartholomäa eingeführt hatte. In den Hausarbeiten und Geschäften, mit den Waisen und Kranken konnte Katharina mit Magdalenas Hilfe zurechtkommen; Maria Gallini ein siebzehnjähriges Mädchen, von den Klarissinnen ausgebildet, wurde mit der Schule betraut.
Das heilige Leben von Katharina war wie das Ferment all jener Tätigkeiten und ohne ihr Wissen zog sie die Seelen «wie ein Magnet» an. Allmählich traten einige Mädchen tatsächlich über die Schwelle des Conventino, um hier zu bleiben: Klara Colombo, Margarete Rivellini, die Lehrerin selbst, Maria Gallini, Franziska Rosa… Und die Kette schloss sich nicht mehr.
Katharina konnte die wirklich geeigneten sofort erkennen; sie verstand, ob sie geneigt waren, «das Kruzifix zu lernen», um von ihm zu lernen, demütig und voll Liebe zu sein; sie empfing sie da mit einem «Willkommen in unserem Haus». Sie beobachtete ein wenig ratlos dagegen jene, die sich mit dem Hütchen statt des einfachen Kopftuches vorstellten oder die sich «zu sehr als Fräulein» zeigten, und sie rechtfertigte sich demütig:
– Wir sind arme Frauen, ihr seid nicht für uns geeignet -.
Was Bartholomäa nur vorausgesehen hatte, begann Umrisse anzunehmen: die Kameradinnen, um die sie den Herrn gebeten hatte, waren gekommen, die kleine Kapelle, von der sie geträumt hatte, wurde eingeweiht, die Observanz der Regel wurde eingeführt und für die dritte Jahresfeier der Gründung war auch die religiöse Kleidung bereit. In Wirklichkeit kostete es Katharina viel, aufs schwarze Kopftuch und die weite Hausschürze zu verzichten; es schien ihr, – sagte sie – mit der neuen Arbeitskleidung «fein wie eine Dame» zu sein, aber dann beugte sie sich der Obedienz.
Sie wollten auch die Oberin mit einer geregelten Wahl aussuchen, und natürlich wurde Katharina bestätigt, die auf ihren Stimmenzettel geschrieben hatte: «Ich ernenne und wähle jede meiner Töchter zur Oberin, weil ich alle für fähig halte, mit Ausnahme meiner selbst».
Um den Geist Bartholomäas lebhaft zu erhalten, den sie ihrem Institut einprägen wollte, half ihr Don Bosio, der die Gemeinschaft mit regelmässigen Vorträgen unterhielt.
– Es ist erfreulich für mich, mit euch sprechen zu können… zu sehr liegt es mir am Herzen, dass ihr den Geist des Institutes richtig erfasst -, sagte er bei seiner Einführung; – die Dinge, die ich euch zu sagen hätte, wären zahlreich, aber es genügt, wenn ihr eines davon beherzigt: Jesus Christus, unserem Lehrer und Muster zu folgen -.
Das Conventino wollte auf jenen Spuren gehen.

 

Andere Berufungen

Gerade als sich die Gemeinschaft mit der Regelmässigkeit des Alltagslebens vertraut machen wollte, brach im Sommer 1836 eine Choleraseuche aus.
Das Dorf geriet sofort in Angst, denn die Fälle vermehrten sich.
Katharina, die immer auf die Bedürfnisse ihrer Leute achtete, verstand, dass die Stunde gekommen war, die Liebe zum Nächsten zu beweisen, der sich die kleine Gemeinschaft gewidmet hatte. Sie versammelte ihre fünf Kameradinnen, mit ihnen las sie eine evangelische Lektüre, die den Notfall beinhaltete und teilte ihren Entschluss mit, obne jemanden zu zwingen, ihr zu folgen.
– Der Herr, sagte sie, – besucht uns jetzt in der Gestalt eines Cholerakranken. Wenn eine bereit ist, ihnen beizustehen, dann gehe sie… Was mich betrifft, rufen mich meine Pflicht und Liebe für sie…-
Und sie machte sich sofort ans Werk; sie schickte die Mädchen wieder zu ihren Familien, brachte die Kranken anderswo unter und im Spital nahm sie die Cholerakranken auf, denen sie in der Weise beistand, wie es «zu wahren, lebendigen Bildern des Erlösers» gehörte.
So viel Liebe und tiefer Glaube rührten selbst die Gemeindeabordnung, die sehr dankbar für ihre Verfügbarkeit war.
Selbstverständlich beeilten sich die anderen, sich hinter die Oberin zu stellen. “Sobald ich sie sah”, – vertraute sich Magdalena an -, “beflügelte das meine Schritte, obwohl ich ein wenig Furcht vor der Krankheit hatte”.
Aber Katharina behielt sie im Auge, damit sie alle nötigen Vorsichtsmassnahmen anwandten und sie sich in den Mühen abwechselten: sie waren jung und einmal auf der Bresche konnten sie sich kaum beherrschen!
Alle wurden von der Seuche bewahrt und nachdem der Notfall vorbei war, fragten sich auch die Misstrauischesten in Religionsfragen, woher sie so viel Grossherzigkeit hatten.
Nicht allein, aber auch für dir umliegenden Dörfer und Städte war es, als ob sich ein Licht im Conventino entfacht hätte. Zivil – und Kirchenbehörden, zu denen der Widerhall jener Hingabe gelangte, begannen ihre Gedanken dorthin zu wenden, weil man für die Kinder sorgen musste, die während der Seuche verwaist geblieben und, für die Mädchen, die ihrem Schicksal überlassen worden waren.
In kurzer Zeit und unerwartet fand Don Bosio auf dem Arbeitstisch tatsächlich die ersten Anforderungen von Schwestern von Don Karl Botta von Bergamo und vom Domherrn Jakob Correggio von Treviglio, die sich verpflichtet fühlten, die neuen Bedürfnisse zu bewältigen.
Das Problem war, Katharina jene neue Lebensaussicht für das Conventino mitzuteilen, denn man wusste, wie sehr es ihr fern lag über die Wohltätigkeit etwas mitzuteilen. Der Pfarrer und Don Angelo versuchten, nur um sich vorzutasten, auf taktvolle Weise eine kleine Andeutung darüber zu machen.
Aber sie begriff rasch und fast vom Schrecken ergriffen, äusserte sie sogleich all ihre Ratlosigkeit. «Das war nicht ihre Absicht… wenn sie gewusst hätte… das Nest für sie und ihre Töchter war Lovere… Tätigkeit hatten sie hier zur Genüge… die Sache konnte keine gute Wirkung haben… man soll davon nicht mehr sprechen…».
Diesmal hinderte sie ihre Verantwortung gegenüber den Kameradinnen, die sie nie von sich entfernt hätte und die sie nie unvorhersehbaren und gefährlichen Lagen ausgesetzt hätte. Sie liessen sie mit ihren Gedanken alleine und respektierten ihr Schweigen, das einige Monate dauerte.
Endlich, aber sie brauchte mehrere Momente der Besinnung vor dem Kruzifix und einen ermutigenden Hinweis des Bischofs von Brescia, den sie selbst befragt hatte, gelang es ihr zu sagen:
– Wenn Gott es so will, werde sein heiliger Wille erfüllt -.
Sie hatte verstanden, dass diese unvorhersehbare Oeffnung im Grunde eigentlich der Segen war, den Bartholomäa erhofft hatte.
– Ein Adler war sie! -, gab sie demütig zu.
Sie zog sich dann resigniert in ihr Zimmer zurück, ergriff die Feder und schrieb: «Mein anbetungswürdiger Heiland, ich wünsche aus Eurem Herzen diese Gefühle auszuschöpfen, und sie in meins zu pflanzen. Weit entfernt mich von meinem Widerwillen gegen dieses heilige Werk besiegen zu lassen, widme ich mich ihm mit erneuerter Begeisterung. Ich werde kein anderes Ziel in meinen Taten haben als Euch und ich werde versuchen, Euch mit Treue zu dienen. Die Aermsten werden in besonderer Weise Gegenstand meiner Sorgen sein und ich werde Euch selbst in jedem Gequälten und Armen erkennen. Glücklich bin ich, wenn ich meine Wegstrecke in solch heiliger Uebung vollenden darf».
Sie faltete den Zettel zusammen und steckte ihn ins Gebetbuch, um ihn immer vor Augen zu halten. Es war ihre Rückgabe an das Werk, das Siegel ihrer Verpflichtung, es weiter blühen zu lassen, so wie es ihre Kameradin geahnt hatte und sie nahm auch jene für sie unvorstellbare Zukunftsaussicht an: ein Institut für jede Zeit und jeden Ort.
In der Tat begann der Auszug aus dem Conventino am 21. Mai 1837 mit zwei Nonnen und zwei jungen Aspirantinnen, die mit den Kindern des Kindergartens ins Institut St. Klara nach Bergamo geschickt wurden; nachher liessen sich andere in dem Zufluchtsort der Abwegigen, auch in Bergamo und im Waisenhaus von Treviglio nieder. «Ihr habt ein weites Feld zu bebauen, schrieb ihnen Katharina. Wie gern würde ich laufen, um mit euch die Mühen zu teilen».
Mühen gab es tatsächlich in jenen immer sehr armen Anfängen. Viel war die Arbeit und gross war auch der Hunger, den sie durch ebensolche Fröhlichkeit geschickt besänftigten.
– Welch ein üppiges Gericht für so wenig Brot! -, rief eine von ihnen spontan aus, weil sie in ihrem Teller nur einen grossen Selleriestängel sah.
Und abends begnügten sie sich mit dem Licht eines Kerzenstumpfens in der Mitte des Tisches, um die Aufgaben zu verbessern und die Arbeiten für den darauffolgenden Tag vorzubereiten. Aber aufgrund jener Hingabe und jener Opfer hatten die Kinder eine Schule, die Waisen ein Heim, die Mädchen eine Begleitung für das Leben, die Kranken Pflege und Trost.
Inzwischen verzweigte sich das Institut wie ein junger Baum weiter, nicht nur in der Provinz Bergamo sondern auch in jenen von Mailand, Brescia, Cremona, das in so vielen Notständen gerufen wurde, um mit der Wohltätigkeit, die Liebe des Erlösers zu bezeugen.
Die Aufbrüche in die Mission wurden immer häufiger, aber gleichzeitig wuchsen auch die Reihen der jungen Anwärterinnen, die Kameradinnen jener ersten sein wollten. Und auch darüber staunte Katharina, die sich nie erlaubt hätte, der Vorsehung zuvorzukommen, denn «der Herr ist der Gebieter der Herzen», sagte sie. «Er ist derjenige, der sie berührt und sie ruft. Sein ist das Werk und er weiss, wie es gut gelingt. Lassen wir es Gott über».

 

Ein neuer Name

Der 14. September 1841 kündigte sich als ein grosser Tag für das Conventino an. Am frühen Morgen wimmelten die Gassen von Lovere schon von Leuten, die auch von nahen Dörfern gekomnen waren. Die Glocken erklangen und die Pfarrkirche von St. Georg war wie für die grossen Feiern geschmückt.
Das Ereignis war wirklich äusserst ungewöhnlich in einem Dorf. Es handelte sich um die offizielle Eröffnungsfeier des Institutes, das die päpstliche Anerkennung endlich erhalten hatte. Da waren sogar der Bischof von Brescia, Monsignore Karl Dominik Ferrari, der Provinzbeauftragte von Bergamo und verschiedene Reden waren vorbereitet worden, um die Angelegenheit zu erklären.
Im Hintergrund des Conventino zeigte sich die Natur in den festlichen Farben des Herbstes, und würdevoll in ihrer Kleidung waren auch die neun Schwestern, die von sechs Novizinnen und neun Postulantinnen begleitet wurden; einfach und heiter in ihrer Haltung näherten sie sich der Pfarrkirche – wie die Berichte erklären -, mit bescheidenem und entschlossenem Schritt, wie die Empfindungen ihrer Herzen waren. Der Höhepunkt der Feier war das Glaubensbekenntnis der neun Schwestern, die auch einen neuen Namen erhielten. Katharina nahm jenen von Schwester Vinzenza an, und wurde auch in ihrer Aufgabe als Oberin bastätigt, obwohl sie versucht hatte, sich zurückzuziehen, anderen jene Verantwortung zu überlassen.
– Ich bin alt -, rechtfertigte sie sich ; – ich kann nichts anderes als Gottes Werk beschädigen. Ich werde tun, was ich kann, ich werde helfen, mich bemühen aber als eine Untertanin -.
Eine von ihnen erinnerte sich, dass diese Aussage der einzige Schatten jenes sehr schönen Tages war. Dann aber sang auch sie zusammen mit den anderen das Tedeum, vährend sie wieder im feierlichen Umzug zum Conventino emporstiegen, gefolgt von einer Menschenmenge, die von tiefer Rührung ergriffen war. In den Berichten ist zu lesen, dass jene Beteiligten zu Tränen gerührt waren, die unter ihnen eine Tochter, Schwester oder Verwandte hatten.
Mit jenem Akt hatte das Conventino seine Identität einer neuen religiösen Familie in der Kirche klar erkennen lassen, und alle konnten schon feststellen, dass der unternehmungslustige und mutige Geist der Capitanio immer mehr in Schwester Vinzenza überging und sich mit ihrem demütigen Geist wohl verband.
Aber “dort oben” schien Bartholomäa sich wieder zu unterhalten, ihr irgendeinen Schabernack zu spielen. Tatsächlich war sie inzwischen sogar im österreichischen Tirol durch ihre Biographie bekannt geworden; niemand weiss, wie diese dorthin gelangt und in deutscher Uebersetzung erschienen war. Auf diese Weise hatte sie nicht nur neue Kameradinnen nach Lovere geschickt, sondern hatte auch den Wunsch der Anwesenheit der Schwestern in jener Diözese erweckt. In kurzer Zeit waren sie in den Spitälern von Rovereto, Arco, Trient anwesend.
Notrufe erreichten sie dann aus Venetien, und die Schwestern eilten unverzüglich nach Legnago und Rovigo.
Ans Conventino wurde nun ständig geklopft und manchmal erschienen hervorragende Persönlichkeiten am Tor, die die Oberin sehen wollten, von der sie mit grosser Bewunderung hatten sprechen hören. Oft fanden sie sie mit Schürze und Holzschuhen, während sie im Garten das Unkraut jätete oder am grossen Brunnen die Tücher ausschwenkte oder das Holz aufschichtete, eine Tür strich oder, wenn das Wasser knapp war, sogar Kartoffeln im Schnee reinigte. Der Vizekönig Ranieri selbst kam mit seinem Gefolge und sah sie mit einer Schürze voll Scherben erscheinen.
– Hier ist die Alte -, sagte sie da, ohne sich zu kümmern, ihre Schürze abzunehmen, demjenigen, der darauf beharrte, sie zu sehen; wenn er eine Alte gesehen hat, hat er alles gesehen.
Und jene, statt sich über eine so sonderbare Aufnahme zu wundern, gingen mit der Ueberzeugung weg, dass sie einer Heiligen begegnet waren. Offenbar lehnte sie jene Hochachtung ab, die sie um ihre Person entstehen sah.
– Auf der Grundlage so grosser Bescheidenheit wird das Institut nicht untergehen können -, rief Monsignore Jakob Freinadimetz, Generalvikar der Trienter Diözese aus, der ihr bescheidenes Benehmen während eines Gespräches mit ihr bemerkt hatte.
Das Institut liess tatsächlich überall Früchte des Guten gedeihen, und Schwester Vinzenza, die Nachricht davon bekam, freute sich darüber, aber sie bemerkte stets rasch und mit tiefer Ueberzeugung:
– Das ist Gottes Hand, die alles tut. Wir sind nur arme Frauen -.

 

In heiliger Gesellschaft

Schwester Vinzenza freute sich über den liebevollen Dienst am Nächsten, den die Schwestern leisteten und trotzdem beunruhigte sie der Gedanke an jene von Lovere «entfernten Töchter»; sie waren inmitten von grossem Leid, unter fortwährenden Mühen und manchmal waren sie Gefahren ausgesetzt.
– Wenn ich mit ihnen sein könnte,wäre mein Kummer geringer -, wiederholte sie.
Da beschloss sie, sie der Reihe nach für einige Tage zwischen August und September zum Conventino zurückkommen zu lassen, wenn es für sie leichter war, sich von ihren Verpflichtungen zu befreien. Und sie kamen erfreut darüber, eine kurze Zeit mit ihrer Oberin zu verbringen, die sie aufnahm, indem sie Arme und Herz öffnete und das ganze Haus in Fröhlichkeit versetzte. Und dann machten sie sich auf, um sich heiter zu unterhalten, Erfahrungen zu erzählen, voneinander Rat zu holen, die kleinen Ueberraschungen auszutauschen, die sie vorbereitet hatte, um sie aufzuheitern.
In aller Ruhe kam auch Don Bosio, der sie mit ebensoviel Rührung willkommen hiess.
– Endlich seid ihr in euer Haus zurückgekommen, um euch auszuruhen; zu Recht, zu Recht nach so vielen Anstrengungen, die ihr um der Liebe willen ertragen habt. Das Herz möchte euch öfters sehen… aber jetzt seid ihr da… –
Und die Rede endete unvermeidlich in der schon berühmten «Predigt des Koffers». So nannte er jenen geistigen Schatz, den jede mitgenommen hatte, als sie das Conventino verliess und den es in jenen Tagen zweckmässig zu überprüfen galt, um den Staub der Trägheit wegzuwischen, wenn er sich je abgesetzt hätte, und um den Schwung der Weihe und des Dienstes zu beleben. Mit einer vertrauensvollen Rede und väterlichem Herzen half er ihnen eine kurze Bilanz zu ziehen, denn ihm lag es zu sehr am Herzen, dass sie in ihrer Mission durch den echten Geist des Institutes belebt würden.
Alle waren dann aufs Neue gerührt, wenn der Moment der Abfahrt kam. Schwester Vinzenza schien keine Ruhe zu finden: sie fragte sich, ob sie die Bedürfnisse einer jeden richtig erfasst hätte und sperrte die Schränke auf, wenn sie noch irgendetwas anderes brauchten, und inzwischen tröstete sie, gab letzte Ratschläge, ermutigte.
Und ohwohl die Reisen kostspielig waren und ihre Gesundheit immer schwächer wurde, unterliess sie es nicht, sie in ihren Gemeinschaften sogar in Tirol zu erreichen. Sei es in Arco, Rovereto und Trient, überall wurde in der gegenseitigen Aufnahme das Fest der Liebe neu gefeiert. Sie stellte eine heilige und überaus sehr menschliche Anwesenheit dar, die stärkte, aufmunterte, Frieden und Eifer hinterliess.
Mit Recht sagte man von ihr, dass sie immer und in allem von der Liebe getrieben vurde. Während jener Reisen erlebte sie, auch die Gesten des guten Samaritaners buchstäblich zu wiederholen, weil sie am Strassenrand zwischen Treviglio und Bergamo einen Mann vorfand, der von der Kalesche gefallen war, und dort hilflos liegen geblieben war.
Ein anderes Mal wurde sie mit den Schwestern, die sie begleiteten, von einem wild gewordenen Pferd zu Boden gerissen. Ein Bauer, der sie von seinem Feld beobachtet hatte, half ihnen und so war ihr Leben wie durch ein Wunder unversehrt.
Entbehrungen schüchterten sie nicht ein, wenn sie dem Wohl der anderen galten und auch durch Hindernisse liess sie sich nicht entmutigen. Ihr Vertrauen auf die Vorsehung war so gross, dass sie, wenn es Schwierigkeiten gab, «sich die Hände rieb». Dann ging sie schnell, um die kleine Glocke des Klosters zu läuten, damit alle in die Kirche herbeieilten, das Tedeum zu singen.
– Immer sollen wir dem Herrn danken -, erklärte sie denjenigen, die dieses Verhalten für seltsam hielten.
Aber sie alle wussten im Grunde wohl, dass sie, wie die Heiligen, darüberhinaus sah: sie sah Gottes Hand immer fürsorglich und gütig.

 

Lasst mich gehen

Das Jahr 1847 kam schon mit Verpflichtungen beladen, denn verschiedene Akte für neue Gründungen waren im Gange. Unter diesen war das Haus im Viertel St. Bernardinus in Bergamo, wo verschiedene Einrichtungen und auch ein Noviziat unter der umsichtigen und aktiven Führung der Oberin Schwester Annunziata Carminati nach und nach entstehen sollten.
– Carminati, Carminati -, hatte Schwester Vinzenza betont, als sie ihr das Haus anvertraute, – ich – empfehle euch die Armut, sonst wird das Haus nicht von Dauer sein -.
Sie begannen tatsächlich, indem sie einen Topf für das erste Mittagessen ausborgten.
Schwester Vinzenza sah dann die Schwestern zum Waisenhaus von Romano Lombardo abfahren, aber dieses Mal vom Bett aus, wohin sie die Gebrechen zwangen, die sie seit einiger Zeit plagten. Ausserdem hatte sie geschwollene Füsse.
– Da sind die Signale -, sagte sie, weil sie den Ernst ihres Gesundheitszustandes ahnte; wenn – mich Gott jetzt mit sich will, bin ich zufrieden -.
So ging sie daran, die geschäftlichen Angelegenheiten in Ordnung zu bringen, um ihre Schwestern nicht in Schwierigkeiten zu bringen und betraute Schwester Kruzifixa Rivellini, die Lehrerin der Novizinnen mit der Direktion des Hauses, die sie wegen ihrer Fähigkeiten und ihres edlen Geistes schätzte. Sie hätte sie nur ein bisschen weniger streng gewollt. Daher rief sie sie eines Tages zu sich, las ihr einige Empfehlungen vor über die Weise sich mit den Schwestern zu verhalten, die sie sorgfältig auf einem Blatt vorbereitet hatte: eine wahre Pädagogik der Liebe, die sich auf Verständnis, Freundlichkeit, gegenseitige Rücksichtnahme der Persönlichkeit angemessene Leitungsmethoden, Rücksicht auf das Alter und die Bedürfnisse stützte… ein wertvolles Vademekum, das Schwester Kruzifixa in Rührung versetzte.
Alle weit entfernten Schwestern hätten, auch nur einen Moment lang, dort in jenem Zimmer sein wollen, um von ihr ein Wort, einen Segen zu empfangen; jedenfalls liessen sie sie wissen, dass sie sich wenigsten einige «Erinnerungen» wünschten ins Herz einzuprägen. Schwester Vinzenza befriedigte sie und sie begann, indem sie sie an das Gebot der Liebe erinnerte: «Liebt einander, duldet euch gegenseitig, und ihr werdet Gottes Segen haben», und sie schloss auf diese Weise: «Der Herr gebe euch Gnade, die Zeit eures Lebens wohl zu gebrauchen, um ihn alle zusammen eines Tages im Himmel zu loben».
Obwohl sie zurückhaltend war, schenkte sie “Erinnerungen” auch anderen Leuten, die sie besuchten und die auf ihrer Bitte beharrten.
– Erinnert euch, Jesus Christus und nicht Don Paul zu predigen -, empfahl sie einem Priester, dem sie auf besondere Weise geholfen hatte.
Und dem Provinzialdelegierten: – Seien Sie immer ein gerechter und barmherziger Richter! –
An einem jener Tage wurde an die Krankenpflegerin folgende seltsame Frage gestellt:
– Sind alle Schwestern beim Mittagessen? –
– Ja, ringsum ist niemand mehr zu erblicken -.
– Dann bitte ich euch um den Gefallen, Schwester Maria Zoja herzubringen -.
Das war rasch erledigt, weil die erst fünfundzwanzigjährige und schwer kranke Schwester zu einem Häuflein Knochen geworden war. Sie trafen sich mit freudestrahlenden Augen, dann entwickelte sich zwischen den beiden ein sehr freundliches Gespräch, das nach Aussage von Schwester Katharina sogar die Steiner gerührt hätte.
Sie sprachen vom Paradies und ermunterten einander, gerne aus dieser Welt zu scheiden. Am Ende bat Schwester Maria um den Segen und die Oberin flüsterte ihr zu, als sie sie verabschiedete:
“Du bist gerade jetzt an der Reihe, als erste ins Paradies einzugehen; lebe wohl, Schwester Maria, heute in acht Tagen werden wir beide vielleicht tot sein”. Während Schwester Vinzenza dann nur noch jenem Gedanken folgte, wollte sie, dass man ihr Zimmer festlich schmückte; sie bat um die Letzte 0elung und die Letzte Wegzehrung und verbrachte die übrigen Tage betend in grosser Andacht.
So kam der Morgen des 29. Juni. Nachdem sie die Eucharistie bekommen hatte, um die sie eindringlich gebeten hatte, schien sie einzuschlummern, als man sie ausrufen hörte:
– Lasst mich weggehen, lasst mich weggehen! –
– Wohin? -, fragten die Anwesenden.
– Ins Paradies, ins Paradies! –
Dann drückte sie das Kruzifix, den Blick und das Herz darauf fixierend, und die Namen von Jesus, Maria und Joseph aussprechend, starb sie. Es war zehn Uhr und die Kirche feierte das Fest der Heiligen Peter und Paul. Schwester Maria ging ihr drei Stunden voraus; seit ihrem glücklichen Treffen waren wirklich acht Tage vergangen.
Mit Tränen in den Augen nahm Schwester Kruzifixa sofort die Feder, um den anderen Gemeinschaften Nachricht darüber zu geben: «…Die Heilige, der Grundstein des Institutes ist nicht mehr da, aber sie hat uns mehrmals versichert, dass sie für alle im Himmel beten wird und dass uns der Herr immer begleiten wird, wenn Liebe und Eintracht unter uns herrschen werden…». Sie war dahingegangen und liess sie als Erbinnen jener Schürze und jener Holzschuhe, worüber sie sich freute, als Zeichen ihres demütigen, unermüdlichen Dienens.
Am Tor des Conventino entstand ein unaufhörliches Kommen und Gehen der Menschen, die sie sehen, ihr noch manchen Kummer anvertrauen, sie beweinen wollten, «denn es war», so sagten sie, «als ob die Mutter aller gestorben wäre».

 

Nach ihnen

Bartholomäa und Vinzenza hatten diese Welt mit dem Versprechen verlassen, dass sie vom Himmel über das Institut gewacht hätten mehr als früher.
Gottes Vorsehung begleitete tatsächlich seinen Weg, indem sich immer neue Wege seiner Mission von Liebe unter den Kindern, Jungen, Kranken, Alten, den Aermsten und Verlassenen öffneten.
Im Jahre 1860 wurden die Schwestern nach Bengalen (Indien) gerufen und seither gab es keine Grenzen mehr für ihre Mission. Gegenwärtig hat das Institut internationalen Charakter und ist anwesend, ausser in Italien, in anderen europäischen Ländern (Spanien, England, Rumänien), in Asien (Indien, Bangladesh, Myanmar, Japan, Israel, Nepal, in der Türkei), in Amerika (Argentinien, Brasilien, Peru, Uruguay, Kalifornien), in Afrika (Zambia, Zimbabwe, Aegypten).
Ihren Ursprüngen getreu, verpflichten sich die Schwestern «den von Jesus dem Heiland übermittelten Beispielen» zu folgen, indem sie zu Zeuginnen und Zeichen seiner regen und unermesslichen Liebe in der Weihe und im Dienst für das Wohl des Nächsten werden, der dieser am meisten bedarf.
Sie sind als Schwestern der Nächstenliebe entstanden und erfreuen sich auch der Benennung durch das Volk als “Schwestern des Kindes Maria”, infolge des Geschenks einer Statue, die nun in der Wallfahrtskirche aufbewahrt wird, die an das Ordensgeneralshaus in Mailand, in der St. Sophiestrasse angebaut ist.
Don Angelo Bosio, der mit Rat und Tat die ersten dreissig Jahre des Lebens des Institutes begleitete, durfte noch den Beginn der Prozesse zur Heiligsprechung von Bartholomäa und Vinzenza miterleben.
Diese beiden Bahnbrecherinnen wurden zusammen von Pius XII. am 18. Mai 1950 heilig gesprochen. Mit ihnen gibt uns die Kirche ein Vorbild von Heiligkeit, die immer aktuell und für alle möglich ist, die im Herzen die Hingabe für die Nächstenliebe nach dem Gebot und Beispiel des Herrn aufrecht erhalten.
«Gehe und mache auch du dasselbe» (Lk. 10,37).